"Flucht vor dem Erfassungsstaat" (Der Spiegel 1987)
Eigentlich wollte ich garnicht gevolkszählt werden. Immerhin bin ich mir seit frühester Kindheit sicher, um wie viele Personen es sich bei mir handelt. Gut, ich führe hin und wieder den einen
oder anderen hintersinnigen Künstlernamen.
Da meine Kunst aber in jedem Fall eine brotlose ist und deshalb keine steuerrechtlichen Konsequenzen hat, wüsste ich nicht, was Vater Staat daran für ein Interesse haben sollte. Außerdem leide
ich unter Umständen unter einer spätstalinistischen Staatsphobie. Entsprechend ist mir jedwede übertriebene Datenerfassung seit langem suspekt. Die Anwandlungen der Bundesrepublik Deutschland
tangieren mich kaum und unionseuropäische noch weniger. Ich beteilige mich regelmäßig an demokratischen Wahlen, zahle grotesk hohe Steuern und Sozialabgaben von meinem lächerlichen Hungerlohn,
plane dennoch keine terroristischen Aktivitäten und halte mich nicht zuletzt deswegen für einen passablen Staatsbürger, der seine Schuldigkeit tut. Man könnte mich also durchaus in Ruhe
lassen.
Ich habe die Vorberichterstattung zur großen Umfrage natürlich ein wenig verfolgt. Mich werden die doch wohl nicht meinen, dachte ich. Sollen sie zählen, wen sie wollen. Ich wäre mit dem
statistischen Mittel vollauf zufrieden. An mir ist sowieso fast alles durchschnittlich. Damit war die Sache für mich erledigt. Bis ich überraschend Post bekam.
Ein gewisser Herr S. wolle mich am nächsten Mittwoch zwischen 18:00 und 18:10 Uhr besuchen und meinen Haushalt befragen, besagte die unerwartete Nachricht. Das passt mir natürlich gar nicht. Ich
will nicht von einem staatlichen Datenspion besucht werden. Erst hinterfragt der meine Einkünfte, katalogisiert aus dem Augenwinkel meine teure Einrichtung und gleicht das Ganze mit meiner
beruflichen Einbindung ab. Dann kommt er ein paar Monate später mit großen Taschen zu einer unerwarteten Nachkontrolle und füllt sich die Tragehilfen während meiner Abwesenheit. Oder er kennt
wen, der für solch lukrative Tätigkeiten prädestiniert ist. Verpflichtende Verschwiegenheit hin oder her. Das Misstrauen bleibt.
Aber was soll ich tun? Für eine längere Fernreise ist es zu spät. Eine neue Identität scheint noch komplizierter. Hungerstreik, öffentliche Selbstverbrennung – alles doof.
Also rufe ich postwendend bei dem Umfrager persönlich an und verspreche den Fragebogen ohne ihn auszufüllen, nachdem er ihn mir ausgehändigt hat. Am Telefon ist er sehr freundlich. Doch gerade
dies kann trügerisch sein. Die Staatsmacht verstellt sich gern und mimt den guten Onkel aus dem Westen und nachher ist doch alles im Arsch. Obacht ist geboten.
Der Spitzel meint noch, unser ganzes Mietshaus würde befragt werden. Wer weiß, was der alles auskundschaften will. Muss ich prophylaktisch die Fische im Aquarion zählen? Reicht meine Schulbildung
für statistische Erhebungen aus oder reiße ich damit unser schönes Heimatland in lateinamerikanische Untiefen? Welche Menge Geldes steht mir monatlich zur Verfügung und welchen Anteil investiere
ich weshalb in den öffentlichen Nahverkehr? Wie viele Frauen leben in meinem Haushalt und was kostet mich das?
Eine besondere Rolle bei der Erhebung wird wohl die Migration spielen. Dazu kann ich sagen, dass ich ein hundertprozentiger Ureinwohner bin, quasi ein naturtrüber Deutscher. Nur meine Frau ist
vons Dorf. Gilt das bereits als Migrationshintergrund? Sie hat sich schließlich an die Zivilisation gewöhnt und konnte schon lange vor ihrer Umsiedlung in urbane Gefilde sehr gut deutsch
sprechen. Den Kontakt zu ihrer rückständigen Heimat will sie zwar partout nicht aufgeben, aber ansonsten ist sie vollständig assimiliert.
Ein weiterer Aspekt des Lauschangriffes soll der demographischen Wandel sein. Denn man vermutet bekanntlich, dass unsere Bevölkerung auf Dauer schrumpft. Vielleicht bin ich statistisch bereits
1,36 Personen. Mein Gewicht könnte diese These bestätigen. Das expandiert seit geraumer Zeit munter vor sich hin.
Ich bin mal gespannt, was aus der Aktion wird. Lange liege ich wach und kratze mir die sorgengefurchte Stirn. Befreundete (hoch verschuldete) Eigenheimbesitzer mussten nur die Frage nach selbst
genutztem Wohneigentum beantworten. Ja oder nein. Aber uns brave Mieter schinden sie wahrscheinlich bis aufs Blut und stellen sogar intimste Fragen nach dem wie und warum. Die Schweine!
Demokratie ist ein hartes Brot. Der Klinkenputzer von Amts wegen kommt eine Stunde zu früh – so lobe ich mir die deutsche Pünktlichkeit. Zum Glück habe ich gerade meine Hose an. Der durchaus
integere ältere Herr überreicht den Fragebogen mit blumigen Worten. Denn hereinlassen möchte ich ihn bekanntlich nicht. Habe derzeit keine schöne Ecke, in der ich ihn platzieren könnte, sage ich.
Das muss er hinnehmen. Also her den Wisch und Tschüß!
Und siehe da, die Staatsmacht will so einiges persönliches wissen. Was bezwecken Bund und Land neben Namen und Adressen mit meiner Telefonnummer? Wollen die mich anrufen und sagen: „Hallo
Thorsten, hier ist dein alter Kumpel Staat, du erinnerst dich sicherlich. Kannst du mir ein bisschen Geld pumpen? Ich bin zurzeit leider etwas klamm. Du weißt ja. Klimaerwärmung, Netzausbau,
Griechenland und die ganze Scheiße. Kriegste bestimmt bald wieder. Denk mal drüber nach. Ich meld mich morgen noch mal. Bis denne…“ Vergiss es, liebes Vaterland.
Bei anderen Fragen wird man wiederum ganz neidisch, wenn man weder ein alevitischer Moslem ist, noch in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung lebt oder beides. Als Hetero-Atheist ist man ja so
gewöhnlich. Oder zählt man etwa schon zu einer Minderheit?
Bildung spielt natürlich auch eine Rolle, aber da kann mir sowieso keiner was. Da habe ich immer weitestgehend mitgemacht. Na fast. Jeder nach seinen Möglichkeiten. Es lebe der
Durchschnitt!
Finanzielle Gegebenheiten werden merkwürdigerweise gar nicht erfragt. Das wundert mich echt. Geld zählen wir doch alle am liebsten, oder? Und nicht einmal sexuelle Vorlieben, nebenberuflicher
Drogenkonsum, psychische Erkrankungen im familiären Umfeld oder traumatische Verdauungsstörungen erfragt der Große Bruder. Wie zurückhaltend von ihm.
Trotzdem alles in allem genug sinnlos bedrucktes Papier. In den versprochenen zehn Minuten kann ich den Katalog nicht abarbeiten. Das dauert länger. Und dann soll ich den Krempel auch noch
frankiert zurückschicken. Das Geld für die blöde Post muss ich mir erstmal vom Munde absparen. Das ist eindeutig Vetternwirtschaft.
Natürlich freue ich mich auch schon auf die baldige Veröffentlichung meiner Daten im Internet. Irgendeinem chinesischen Hacker wird der Datenmegagau schon gelingen. Oder den Russen. Ich sage ja,
nachher ist doch wieder alles im Arsch.
Na jedenfalls vielen Dank dafür - Vati! (HO)