Negative Eloquenz

"Reden ist Silber, Schweigen ist Gold." (Volksmund)


Meine frühe Jugend verlief relativ unspektakulär. Ich war angemessen erzogen, zurückhaltend und schweigsam. In meinem Leben passierte nichts Besonderes und es hatte wenig Sinn, anderen Leuten davon zu berichten.
Dann zog ich bei Mutti aus und in meine erste eigene Hausgemeinschaft. Sie bestand überwiegend aus zwei älteren Damen, die auf meiner Etage residierten. Diese verbrachten viel Zeit im Hausflur, wo sie Konversation und/oder die Treppe pflegten. Ein nahezu dörfliches Idyll. Natürlich war ich als aufbegehrender, unausgewogener Mitbürger, der endlich zwischen Lethargie und Vergnügungssucht hin- und hergerissen wurde, wenig bestrebt, mich an den Debattierzirkeln der Nachbarinnen zu beteiligen. So entwickelte ich Vermeidungsstrategien.
Bevor ich mein Heim verließ, lauschte ich eine halbe Stunde an der Wohnungstür, nur um keiner der Seniorinnen zu begegnen und mir womöglich endlose Geschichten über den Krieg oder die Hausordnung anhören zu müssen. Entsprechend vollbrachte ich meine turnusmäßige Treppenreinigung meist Montagmorgens um vier in der Hoffnung, die eloquenten Nachbarinnen lägen zu dieser frühen Stunde noch im tiefen Klosterfrau-Melissengeist-Schlaf. Das waghalsige Unternehmen glückte mir dann auch häufiger binnen fünf Minuten und hätte keiner Erörterung mit erfahrenen Hausfrauen Stand gehalten. Ratz-fatz erledigt. Und nicht mal richtig nass geworden!
Nach meinem Auszug blieb mir die Gesprächsphobie im Wohnumfeld noch etliche Jahre, ja teilweise sogar bis zum heutigen Tage, treu. Immer noch meide ich Nachbarn, mit denen ich nach eigenem Ermessen nichts zu besprechen habe. Smalltalk ist halt nicht meins. Und dies ist sicher nicht nur in meinem Interesse.
Der überflüssigen Gesprächsführung im Mietshaus kann man demzufolge relativ unbemerkt aus dem Weg gehen. Schwieriger ist dies im persönlichen Umfeld, sei es im Bekanntenkreis, oder bei Kollegen und Klienten auf der viel zu oft besuchten Arbeitsstelle.
Denn es gibt dort immer wieder Leute - die sagen etwas und man möchte sofort einschlafen, nach Hause gehen oder sich aufhängen – jedenfalls umgehend den Kontakt zu ihnen abbrechen. Für immer. Das zusammenhanglose Gewäsch ist derart Nerv tötend, dass man sich besonders nach mehrstündiger Berieselung an absolut nichts erinnern kann, obwohl man ansonsten im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten zu sein sich wähnt. Eloquenz in ihrer negativsten Ausprägung. So schlecht kann das Wetter gar nicht werden, dass man sich mit solchen Menschen darüber unterhalten möchte. Und es werden immer mehr. Früher wussten wenigstens die Heranwachsenden, was sie im Umgang mit Erwachsenen zu tun hatten – die Schnauze halten. Auf Anweisungen warten. Vorbei. Heute müssen auch sie pausenlos reden.
Im Vorfeld unausweichlicher zwischenmenschlicher Begegnungen dieser Art versuche ich mein Unwohlsein, die bösen Ahnungen zu besänftigen. Ich rede mir Toleranz ein, werde Warze, bespreche mich selbst. Eigentlich bräuchte ich doch nur trübsinnig vor mich hin zu starren, denke ich. Müde zu lächeln und hin und wieder beflissentlich zu nicken. Im Notfall sofort reagieren. Antworten. Dann wieder abschalten. Stand bye. Die zermürbenden Monologe der Anwesenden sind unterhaltsam wie eine Brenneselteeparty. Hoffentlich geht das alles irgendwann vorbei.
Doch man entkommt ihnen nicht. Sie sind schmerzfrei. Stur. Ausdauernd. Anhänglich. Sie kommen immer wieder. Und dann geht das Gequatsche von vorne los. Es ist grausam. Wenn man ihnen, aus Versehen, ein Stichwort gibt, picken sie den dargebrachten Gesprächskrümel gierig auf und beantworten ihn mit einem neuerlichen Redeschwall, der einem die Sinne vernebelt. Manchmal möchte man taub sein. Oder tot.
Denn alles wird schlimmer. Angestachelt von Hartz IV-TV und sozialen Netzwerken wird jeder Idiot, jeder Flachkopf ermuntert, zu allem seinen widernatürlichen Kommentar abzugeben. Schrieb man sich seine Milchmädchenweisheiten früher in Poesiealben und ließ diese, zu Recht, in verklemmten Schubladen vermodern, so erklären sich die Leute mit zunehmender Verblödung umso ausgiebiger, penetrieren ihre verkorkste Umwelt mit pseudophilosophischen Ergüssen oder berichten gönnerhaft, wie viele Male sie bis zum Mittag onaniert und an wen sie dabei gedacht haben. Bestenfalls nur im Netz und nicht im persönlichen Gespräch. Denn dort kann man ihnen wenigstens fern bleiben. Den Freundeslisten. Den Netzwerkern. Dem Abschaum.
Wenn die Informationsfanatiker in der realen Welt nur ebenso leicht auszublenden wären. Wenn man sie zusammentreiben könnte. Um sie zu isolieren, bis sie sich gegenseitig totgelabert haben. Regelmäßig ein paar billige genmanipulierte Lebensmittel zur Verfügung gestellt, wird sowieso viel zu viel weggeschmissen, um sie nicht schuldhaft abzumurksen. Das können sie bestenfalls selbst erledigen. Denn unweigerlich werden sie im Rahmen ihrer endlosen Diskussionen über Furz und Feuerstein in Streit geraten, handgreiflich werden und sich gegenseitig ausrotten. Klingt absolut vernünftig, oder?
Aber das geht wohl leider nicht. Wegen der Menschlichkeit. Heilige Humanität. Ist alles Quatsch. Was soll nur aus uns werden… (HO)