Ich HASSE den Winter!
Heute hat’s geschneit. Viel geschneit, sehr viel für Anfang Dezember. Und in was muss ich blicken? In dümmlich glücksverklärte Gesichter meiner Mitmenschen. Und was muss ich mir dazu anhören? Die
immer selben Kleinbürgervorstellungen vom perfekten Wintertag: Kalt muss er sein, die Sonne muss scheinen und ein Meter Schnee muss liegen. Und wenn man dann noch auf einer Skipiste wäre, die man
nach 30 Stunden auf 800 Kilometern vereister Autobahn erreichte. Wäre das nicht wunderschön? Inklusive der Aussicht, mit gebrochenem Becken nach drei Tagen bequem im ADAC-Flieger zurück ins
heimische Klinikum geflogen zu werden? Vielleicht klingt es schon ein wenig durch - ich mag den Winter nicht. Offensichtlich gibt es aber Menschen, die den Winter mögen. Nur warum? Was treibt sie
an, was müssen sie erlebt haben, um so eine fiese Jahreszeit zu mögen?
Wenn ich mir meine winterverrückten Mitbürger so ansehe, können sehr unterschiedliche Motive dahinter stecken, Winter toll zu finden. Mir fallen insbesondere die folgenden Winter-glückspilztypen
auf: Der wahre Winterfreund, der Wintersportler und diejenigen, die noch eine Rechnung mit ihrer Kindheit offen haben.
Der wahre Winterfreund mag Texte und Lieder von Herbert Roth, hat eine Finnhütte bei Schmalkalden und liebt den Thüringer, wahlweise auch den Bayrischen Wald – nur zu hoch hinauf darf es aus
Herz-Kreislaufgründen nicht gehen. Somit fallen die Alpen aus. Die ganze Winterliebe hat einen Haken. Zum Sommer hat der wahre Winterfreund eine diametral ent-gegengesetzte Einstellung. Das sieht
dann in etwa folgendermaßen aus: Bei 16 Grad im Schatten wird das dickliche Gesicht rot, der ganze Mensch schnappatmig, die Aussprache dünner und die ohnehin auf ein absolut notwendiges Minimum
reduzierte Bewegung (auch im Winter) wird auf null zurückgefahren. Bei 23 Grad steigt die Sehnsucht nach der mücken-verseuchten borealen Steppe Nordfinnlands. Entsprechende Bildbände und der
Kompass Insektenführer müssen her. 30 Grad und mehr führen zu einer grundlegenden Einstellung wesentlicher Funktionen. Unter anderem werden Duschen nicht mehr aufgesucht. Dafür glotzen wahre
Winterfreunde bei den ersten Schneeschauern Ende September glücklich in die Welt, während ich mich nach einem goldenen Oktober sehne: Auf den Kanaren. Mit dem wahren Winterfreund habe ich
trotzdem irgendwie meinen Frieden gemacht. Ich verstehe ihn nicht und er mich auch nicht. Allerdings bin ich davon überzeugt, dass der Mensch etwas haben muss, für das er brennt. Also brenne
weiter, kleines Licht. Und das verklärte Glotzen muss ich mir ja nicht ansehen.
Wenn es im Hochsommer auf den Promenadenwegen klappert und rasselt, kann das an einer Nordic-Walking-Gruppe mittfünfziger Frauen mit künstlichen Kniegelenken liegen. Es kann aber auch ein
Wintersportler, in diesem Fall ein (Roll-)Skifahrer sein, der einsam zwischen Bermudashorts und Miniröcken seine Runden dreht. So etwas gibt es, sogar im Flachland! Ich selbst bin mal fast mit
einem zusammengestoßen, Mitte Juli bei 29 Grad im Schatten. Was soll ich dazu sagen? Sport ja, aber doch bitte alles zu seiner Zeit. Vielleicht sollten die Sportaktivitäten des Wintersportlers im
Sommer in den Biergarten verlegt werden oder gleich nach Patagonien. Nun, ich wüsste, wohin es mich verschlagen würde. Patagonien zählt definitiv nicht dazu.
Wahre Ideologen unter den Winterfreunden sind Menschen, die (im positiven wie auch nega-tiven Sinn) noch Rechnungen mit ihrer Kindheit offen haben. Im negativen Sinn wurden sie im Kindergarten
und auf dem Schulhof regelmäßig eingeseift und mit richtig harten Schneebällen beworfen. Eigentlich gute Gründe dafür, den Winter, seine ehemaligen Mitschüler, Klassentreffen und die Menschen
überhaupt zu hassen. Ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom, werden mit dem Auslöser des ganzen Unglücks positive Emotionen verknüpft und damit ein verklärtes Winterbild entwickelt. Bedrohlich, aber
schön, wie einen Hurrikan aus einem Atom-U-Boot zu beobachten.
Für die andere Gruppe mit offenen Kindheitsrechnungen prägt der Winter die „Heidi-Bergwelt-glücklich-unbeschwerte-Kindheit-Identifikation“. Hach, schön! Wie Ferien auf dem Immenhof, nur im
Winter. Da in meinen eigenen Winter-Kindheitserinnerungen hauptsächlich endlose Reisen in einem Trabant 500 in die Winterferien zu Oma und Opa nach Rodishain im Harz vorkommen, die ich neben
einem stinkenden Katalytofen, weil der Trabant einfach nicht warm werden wollte und einem kotzenden Bruder verbrachte, der die Kurverei nicht vertrug, konnte sich ein positives Winterbild bei mir
nicht voll bzw. gar nicht ausprägen. Und nach Stockholm will ich nicht einmal im Sommer.
Daneben fallen die völlig indiskutablen Vertreter auf, die dem Winter zwar auch nichts abge-winnen können, die aber beispielsweise folgendermaßen argumentieren: „Ist doch schön, dass man bei uns
die Jahreszeiten merkt.“ Mmh, was bitte soll daran schön sein, sich sechs Monate im Jahr den Arsch abzufrieren? Eine weitere Floskel „Je härter und länger der Winter war, desto größer ist die
Freude auf den Frühling“ Tolle Wurst, ich halte mal dagegen: „Je beschissener das Essen, umso größer die Freude auf’s Kotzen?“ Am besten und abgedroschensten ist diese Phrase: „…aber für die
Kinder ist es doch schön…“. Bitte? Weil es offensichtlich Menschen gibt, von denen angenommen wird (mehr als eine Vermutung ist das nämlich nicht), dass sie den Winter mögen könnten, soll ich den
Winter auch mögen? Dann fange ich aber auch gleich damit an, Krieg zu mögen. Nicht weil ich etwas davon habe, aber irgendjemand findet bestimmt Gefallen daran. Gönne ich es ihm. Von ganzem
Herzen. Ich mag dann auch Banküberfälle, denn der pfiffige Räuber erzielt ja einen nicht zu unterschät-zenden Gewinn. Pflegeheimbrände sind ebenfalls cool, weil die freiwillige Feuerwehr endlich
mal wieder in der Realität löschen kann. Wir sehen, diese Argumentation hinkt gewaltig. Da-rum beende ich sie und suche mein Ticket nach La Gomera. Da fliege ich jetzt nämlich hin und kann meinen
Winterhass gegen Frühlingsliebe eintauschen. (Don Locko)