Kürzlich wurde einer Frau gerichtlich untersagt, Xavier Naidoo als Antisemit zu beschimpfen. Und alle berichteten darüber. Einige empörten sich, weil sie Xavier Naidoo für einen schrecklichen
Menschen halten. Andere, weil böse Texte über diese Person gern gelesen werden.
Damit sie, verehrter Leser, sich nicht in den Schmutz der Kommerzmusik und des Kommerzjournalismus begeben müssen, habe ich hier alles aufgeschrieben, was es Berichtenswertes zur Vorgeschichte
dieses belanglosen Vorfalls gibt, denn wenn in einem Jahr dieser Sänger mal wieder Thema ist, werden diese Litaneien aus den Aktenschränken geholt und neu verpackt. Irgendwelche Erkenntnisse
kommen dabei wahrscheinlich nicht zu Tage, denn die Zeitungen können mit Recht davon ausgehen, dass das, was sie vor ein paar Jahren geschrieben haben, vergessen sein wird. Und sie, verehrter
Leser, werden sich dann an diesen hochwertigen Artikel von mir erinnern, müssen den ganzen Müll des modernen Journalismus nicht lesen und haben mehr Zeit für sinnvolle Sachen.
Solch einen Xavier Naidoo Aufreger gibt es jedes Jahr. 2017 war der Anlass ein Lied mit dem Titel Marionetten der Söhne Mannheims, deren Sänger Xavier Naidoo ist. Auch damals wollte sich gefühlt
jede deutsche Zeitung mit Online-Ausgabe dazu äußern und es erblickten viele Artikel mit fast gleichem Wortlaut das Licht der Welt.
Sich selbst ein Bild zu machen war nicht so einfach. Dem Musikverlag war es nämlich erfolgreich gelungen, alle Kopien dieses Liedes aus YouTube zu löschen. Irgendwann fand ich dann den Text und
später auch die Musik auf einem russischen Videoportal. In dem Lied kommen Wörter wie Volksverräter vor. Die erwiesenermaßen falsche Verschwörungstheorie vom Pizzagate wird erwähnt. Im Video
werden die Politiker als Marionetten dargestellt, deren Fäden finstere Mächte kontrollieren. Das ist, wie ich bald erfuhr, eindeutig antisemitisch. Die einzige erlaubte Ausnahme sind
Aufklärungsvideos zur Beschreibung der russischen Demokratie in denen die Marionetten von Putin persönlich bewegt werden. Es hätte mir viel Zeit erspart, wenn einer der Empörungsartikel, der mir
zu diesem Thema über die sozialen Medien aufgedrängt wurde, den kompletten Liedtext enthalten hätte, aber dem steht wohl das Urheberrecht entgegen.
In den linken und bürgerlichen Zeitungen dominierten zunächst die Texte, die für Sanktionen gegen den Sänger der Band eintraten. Später waren die Stimmen, die sich in diesem Fall für die Freiheit
der Kunst aussprachen in der Mehrheit. Bei allen Unterschieden gab es eine Gemeinsamkeit, denn die Autoren konnten der Versuchung nicht wiederstehen, ihre negative Bewertung der Gesangskunst des
Sängers kundzutun. Das hatte unterschiedliche Motive. Die einen unterstrichen, dass es ihnen nur um die Freiheit der Kunst ging, und dass sogar bei einer Band, die sie nicht mögen. Die anderen
wollten das Lied schlechtreden. Selbst der von mir hochverehrte Markus Hammerschmitt hatte sich in einem Telepolis-Artikel dazu hinreißen lassen. Der Liedtext sei erbärmlich und der Sänger
deshalb kein Künstler, meinte er. Geärgert habe ich mich, weil hier die Qualität der Musik und Lyrik mit einer Verbotsdebatte vermengt wurden, denn meine eigenen Liedtexte sind ebenfalls schlecht
und meine Gesangskünste bescheiden. Keine Angst, ich arbeite daran. In fünf Jahren könnt ihr mich als Schlagersänger im Fernsehen bewundern.
Das Lied wurde nicht verboten. Trotzdem hatte es Konsequenzen für die Band. Zuerst wurde der Sänger genötigt, auf Facebook eine Erklärung des Liedtextes zu schreiben. Das tat er dann auch. Dann
musste die gesamte Band vor dem Oberbürgermeister von Mannheim erscheinen und sich nochmals erklären.
Das ZDF war nicht bereit, sich von dem Sänger zu lösen. Sicher, weil ein guter Bekannter des Künstlers hier etwas zu sagen hat. Der deutsche Kulturbetrieb ist für Außenstehende nur schwer zu
verstehen. Um sich Plätze an den lukrativen Töpfen des öffentlichrechtlichen Rundfunks zu sichern, oder Geld von der Kulturförderung zu bekommen muss man Beziehungen spielen lassen und
Konkurrenten ausbooten. In diesem Haifischbecken kann es verheerend sein, anderen eine Angriffsfläche zu bieten. Das Ganze noch komplizierter machen Glaubenskrieger, die nicht eher ruhen, bis die
Existenzgrundlage der Vertreter falscher politischer Meinungen zerstört ist. Manchmal auch nur, weil sie auf dessen Job scharf sind.
Fast jede Partei lieferte eine Stellungnahme ab. Ein Verbot des Liedes komme nicht in Frage wurde einhellig versprochen. Die Frage, ob eine Band mit falschen politischen Ansichten weiterhin von
der Kulturförderung profitieren sollte, durfte aber gestellt werden. Die Frage, warum eine so erfolgreiche Band überhaupt Kulturförderung bekommt, dagegen nicht. Denn sonst hätte die Fragerei ja
nie aufgehört. Die Aufmerksamkeit, die das komische Lied erfuhr, ist kurze Zeit später abgeebbt. Marionetten war nur drei Wochen lang in den Top 10 der iTunes Charts zu finden. Der Schaden blieb
also gering.
2016 war der Anlass des jährlichen Xavier Naidoo Aufregers eine geplante Show des NDR namens "Ein Lied für Xavier". Hier durfte das Publikum die Musik des deutschen Beitrages zum Eurovision Song
Contest auswählen, aber der Interpret stand schon fest. Eine ganz schlimme Idee. Bald brandete ein Shitstorm auf, der sich schnell persönlich gegen Xavier Naidoo richtete. Dem NDR war es ganz
recht, denn damit wurde von den eigenen Fehlern abgelenkt. Auch hier schrieben alle voneinander ab und in jedem - auch wirklich jedem - Artikel wurden die folgenden drei Punkte aufgezählt.
Der erste Fehler war, dass er 2014 spontan bei einer Kundgebung der Reichs-bürger eine Rede gehalten hatte. Ja, genau die Reichsbürger, die heutzutage von militanten Nazis unterwandert sind und
der Regierung der BRD jegliche Legitimation absprechen. Damals waren die Reichsbürger - zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung - ein Haufen alter verwirrter Männer, die ihre Führerscheine
selbst ausdruckten und eigene Königreiche ausriefen.
Fehler Nummer zwei war ein Lied, bei dem Xavier Naidoo seine Gewaltfantasien bezüglich Kinderschändern zum Ausdruck brachte. Zur Erklärung und Einordnung möchte ich darauf hinweisen, dass sich
sein Zorn vorrangig gegen schwule Vergewaltiger richtete und dass die Forderung "Todesstrafe für Kinderschänder" ein astreiner Nazispruch ist.
Als dritter Fehler wird ein Interview angesehen, bei dem Naidoo die Souveränität Deutschlands in Frage gestellt hat. Die dort vom ihm gewählte Formulierung war etwas unglücklich. Naidoo bezog
sich dabei auf ein Buch des Historikers Foschepoth, der darin die Geheimverträge zwischen den Geheimdiensten der USA und der BRD untersuchte. Das Buch hatte beim Erscheinen wenig Wirbel
verursacht, war dann aber durch die Snowden-Enthüllungen bekannt geworden. Ehrlich gesagt, verstehe ich immer noch nicht, was das Problem an diesem Interview war, aber genau deswegen wird er als
Verschwörungstheoretiker bezeichnet.
Mehr Kritikpunkte wurden nicht genannt. Vielleicht ist drei die magische Zahl, die im Journalistik-Studium als optimale Menge für Verleumdungen gilt. Oder vielleicht gab es auch nur diese drei.
Die ersten beiden Punkte lassen eine Nähe zu rechten Themen und Bewegungen zu. Ich glaube aber, der Hauptgrund für den regelmäßigen Shitstorm, dem dieser Sänger ausgesetzt ist, ist, das den
meisten Intellektuellen sein substanzloser Pathos mächtig auf die Nerven geht und ihm viele seinen Erfolg - vor allem bei der eigenen Gattin - nicht gönnen. In den meisten Fällen geht es eben
doch nur um sehr profane Dinge. (Erp Trafassel)