„Im Becher ertrinken mehr als im Meer.“ (Sprichwort)
An Christi Himmelfahrt war dereinst Jesus Christus in den Himmel aufgefahren und hatte rechts neben seinem Vater, dem lieben Gott, Platz genommen, um in Ruhe den weiteren Verlauf der
Menschheitsgeschichte beobachten zu können und sich Notizen für das Jüngste Gericht zu machen. Bei diesem Gericht würde er über jeden Menschen sein Urteil fällen und ihn in Richtung Paradies oder
ewige Verdamnis schicken, je nachdem, wie gottgefällig er gelebt hat. Und das mit der Hölle hört sich echt Kacke an, so mit Feuer und Schmerzen und unendlichen Qualen. Dem Christenmenschen wird
deshalb seit zweitausend Jahren das Paradies als pures Glück nach einem arbeitsreichen und unterwürfigen Leben in Aussicht gestellt. Dabei geht es, wie gesagt, um die Ewigkeit, eine ziemlich
lange Zeit, die man oben im Reich Gottes oder unten im Fegefeuer verbringen muss. Wenn ich mir aber vorstelle, bis in alle Ewigkeit mit bestimmten Menschen aus meinem weitläufigen Bekanntenkreis
auf einer Blumenwiese im Jenseits herumhüpfen zu müssen, vergeht mir die Vorfreude auf die Seligkeit gleichermaßen. Für immer will ich nicht einmal mich selbst an der Backe haben. Eher möchte ich
den Granatapfel vom Baum der Erkenntnis auf den Schädel gepfeffert bekommen oder von einer gewissen Schlange gewürgt werden. Doch genug davon.
Am Donnerstag, vierzig Tage nach Ostersonntag, setzen sich in jedem Jahr tief religiöse Männer auf ihre Fahrräder, binden sich Rucksäcke voller Bier und Schnaps auf den Rücken und treffen sich
mit anderen Männern mit Rucksäcken voller Schnaps und Bier. Wer nicht Fahrrad fährt, zieht einen Handwagen hinter sich her oder trägt die Flaschen im Stoffbeutel. Da muss man flexibel sein.
Während ihre Frauen und Kinder daheim auf einen Anruf der Polizei oder des örtlichen Krankenhauses warten, sitzen die feinen Herren in Gartenlokalen, Parks und an Straßenecken und feiern die
Familienzusammenführung im Himmelreich. Sie freuen sich, umarmen einander und singen fröhliche Lieder, teilen Speis und Trank und schwelgen in Frühlingsgefühlen. Später fällt auch mal jemand hin,
fällt auf einen anderen drauf oder rempelt ausversehen jemanden an. Dann kippt manchmal die Stimmung und es geht Auge um Auge und Zahn um Zahn - wie in der heiligen Schrift. Sowas kann
passieren.
Auch wir wollen dem Frühling die Stirn bieten und fahren mittags mit dem Rad zu unseren Lieblingsmenschen in den Garten. Mit Frauen und Kindern, versteht sich, denn wir haben das spätpubertäre
Gehabe längst überwunden. So machen wir das seit vielen Jahren. Grillen, essen, trinken, die kleinen Kinder spielen im grünen Gras, die großen Kinder kommen nicht mehr mit. Der Grill qualmt, als
sollte eine Hexe verbrannt werden, Insekten verlassen notgedrungen die Stadt. Getränke werden gereicht und freudig angenommen. Ein Prosit der Gemütlichkeit. Aber heute ist es ein wenig anders.
Denn ich habe der geliebten Gattin zum Geburtstag Eintrittskarten für das Puppentheater geschenkt. Sie liebt die Kultur über alles und geht sehr gern ins Theater. Als ich die Karten erwarb, im
Winter, war mir der Verlauf des Kirchenjahres nicht ganz bewusst. Deshalb gelten unsere Billetts ausschließlich heute – am Herrentag. Unsere Freunde schütteln die Köpfe und können sich ein
Grinsen nicht verkneifen, als sie von unseren Plänen erfahren. Wir werden nach dem Abendbrot abreisen, um pünktlich die Vorstellung zu erreichen. Die Kinder lassen wir im Garten, die Gefährten
werden sie später zu Bett bringen.
Natürlich halten wir uns bei den alkoholischen Getränken zurück, um dem Puppenspiel mit dem nötigen Respekt beizuwohnen und nicht alle zehn Minuten auf´s Klo gehen zu müssen. Während das Grinsen
der Freunde immer breiter wird, freuen wir uns auf den Schimmelreiter von Theodor Storm. Das einzige Stück in diesem Quartal, das nicht auf Vorschulkinder zugeschnitten ist.
Die Sonne scheint sommerlich warm auf unsere Party. Leider hat der Wetterbericht ein ordentliches Gewitter zum frühen Abend angekündigt. Und die Wolken halten sich daran. Sie werden immer dichter
und bedrohlicher. Pünktlich fängt es an zu scheppern, es hagelt Eiswürfel, die sich manche Leute in den Gin Tonic rieseln lassen. Wir quetschen uns unter den Baldachin. Die Frau und ich hoffen
derweil auf eine trockene Heimfahrt. Das Gewitter hört sicher gleich auf. Doch die Zeit verschwimmt im Regenwasser. Wir müssen los, egal wie. In Sack und Asche können wir kaum ins Theater gehen.
Ein ordentliches Beinkleid, feste Schuhe und etwas Pomade ins Haar – das muss sein. Man bittet uns, zu bleiben. Wir lehnen ab. Und fahren bei strömendem Regen mit den Rädern nach Hause, werfen
die nassen Klamotten in die Ecke, duschen hastig und kleiden uns adrett.
Wer mag wohl am wichtigsten Sauftag unserer Heimatstadt abends ins Theater gehen? Langhaarige Studentinnen? Doktorandinen mit Doppelnamen? Reife geschiedene Damen? Oder vielleicht ein paar
trockene Alkoholiker? Ja - sie alle - und wir! Ich bin selbst überrascht. Das Puppentheater ist ausverkauft und wir kennen sogar einige Leute mit kultureller Ausstrahlung. Dann geht es los.
Im Schimmelreiter spielt das Wasser, das Meer, die Flut eine tragende Rolle. Ein Thema, das mir irgendwie bekannt vorkommt. Denn noch vor einer Stunde hatte ich selbst eine völlig durchnässte
Hose an. Das wünscht man niemandem. Entsprechend apokalyptisch ist das Interieur. Gespenstische Dunkelheit, spartanische Kulisse, martialische Gesänge. Und immer wieder die gleichen
eindringlichen Sätze: „Wenn der Nebel kommt, bist‘ hin. In Husum regnet’s Blut.“ Das ist schon ziemlich beeindruckend. Ich kenne die Novelle nur ungenau, das Stück erschließt sich jedoch von
selbst. Ein Jüngling lechzt nach Bildung, berechnet den Fortschritt und verwirklicht seine Pläne - gegen Einfallt, Rückständigkeit und Seilschaften seiner Mitmenschen. Er geht mit Tatendrang ans
Werk, versetzt buchstäblich Berge, zerbricht aber schlussendlich an seinen eigenen Idealen. Eine Entwicklung, die vielen Aktivisten der ersten Stunde wiederfahren ist und etliche Innovationen im
Sande verlaufen ließ. Mit Optimismus lässt das Stück den Zuschauer nicht unbedingt zurück. Wozu auch?
Als wir aus dem Puppentheater treten, ist das Wetter wieder tip top. Wenn es nicht nächtlich finster wäre, schiene die liebe Sonne senkrecht in die Pfützen. Welch romantischer Abend. Während
andere Leute sturzbetrunken in Büschen und Notaufnahmen liegen, schlendern wir beseelt nach Hause. (HO)