Der scheißende Stein

Die Sozialisation der kleinen Erdenbürger erfordert deren Auseinandersetzung mit Lebewesen, für die sie die Verantwortung tragen. Ein Haustier nimmt quasi das ganze Leben vorweg.


Wie fast alle Kinder, so hatte auch ich in meiner Kindheit Versuche mit den verschiedensten Tierarten unternommen. Mein großes, treu sorgendes Herz hatte Platz für so manche Kreatur.
Da meine Mutter von Anfang an behauptete, sie hätte eine asthmatische Tierhaarallergie, musst ich mich schon früh mit dem Verzicht auf Karnickel, Katzen, Hunde und andere Fellrollen abfinden. So wurde eine russische Landschildkröte zu meiner ersten großen Liebe. Sie bekam den schönen Namen Susi. Stundenlang lagen wir auf dem Bauch, die Sonne schien uns auf die Schuppen und wir sahen uns in die Augen.
Unsere Beziehung hatte natürlich auch unangenehme Aspekte.
Wenn Susi Stuhlgang hatte, kümmerte sich meine Mutter um die Entsorgung. Und ihr Pipi war ebenso nicht gerade schön. In der Pfütze befand sich mittig ein weißer Schleim, der wohl aus Kalk bestehen sollte. Mit viel Gerubbel bekam ihn Mutti wieder vom Teppich runter. Unsere Kröte war nämlich eine Terrarien-Verweigerin. Sie lebte einfach auf der ausdünstenden Auslegeware.
Damit Susi nicht an Einsamkeit erkrankte, bekam sie wenig später einen Leidensgenossen zur Seite gesetzt. Damals gab es noch Schildkröten für 12,80 Ostmark – da konnte man öfter mal zu schlagen. Die zweite Kröte hieß Peter. Er war nicht ganz so hübsch, etwas blass um den Panzer und auch er hat nie sprechen gelernt.
Ein zweiter Grund für die Haustiererweiterung war natürlich die unwissenschaftliche Hoffnung, das Kroppzeug würde sich mal vermehren. Peter unternahm zwar alle paar Monate mal einen Besteigungsversuch, Susi war aber stets desinteressiert und kroch einfach weg.
Winterschlafen brauchten die Kröten auch nicht nach Plan, sie legten halt irgendwann eine mehrwöchige Siesta unter der Heizung ein, egal, zu welcher Jahreszeit. Wenn sie Hunger hatten, versammelten sie sich vorm Kühlschrank oder krochen einem aufdringlich über die Füße. Des Öfteren bekamen sie auch mal einen galanten Tritt, wenn man sie übersehen hatte, während man schnellen Schrittes durch die wenigen Räume eilte. Sie waren aber robust und nicht nachtragend.
So lebten sie über zehn Jahre in unserer Mitte.
Doch kurz nach der Wende starb Susi eines plötzlichen Todes. Ob politische Gründe dahinter steckten (war sie vielleicht ein Stasi-Spitzel?), ließ sich nicht mehr feststellen. Peter hüllte sich mal wieder in Schweigen. Eine feierlich Bestattung wurde ihr nicht zu teil, meine Mutter schmiss sie einfach in die Mülltonne hinterm Haus.
Peter verlebte noch weitere zehn Jahre in der großdeutschen Republik, er bekam sogar im Winter Salat und hin und wieder neue Auslegeware unter den Panzer. Nachdem er einige Zeit mitten im Wohnzimmer gesessen hatte und meine Mutter immer um ihn drum herum gesaugt hatte, fing er an zu riechen. Da ich mich weigerte, ihn einfach in den Müll zu schmeißen und meine Mutter ihn nicht bis zur feierlichen Bestattung rum liegen lassen wollte, kam er in den Tiefkühlschrank, bis eine endgültige Lösung gefunden wäre.
Schließlich setzte ihn mein Schwiegervater auf einen Ameisenhaufen, um den abgenagten Panzer später ausstellen zu können. Nach dem Winter war er nicht mehr da, wahrscheinlich hatte ihn der Fuchs geholt.
Ich hatte auch noch andere Tiere, die uns und den Kröten Gesellschaft leisteten. Da waren z.B. zwei Guppies (so kleine Zierfischdinger), die in einem großen ehemaligen Gurkenglas lebten (wenn auch nicht lange), zwei Kaulquappen aus dem Adolf-Mittelmeer, die das selbe Glas bewohnten (die starben noch schneller), ein Schuhkarton voller Schnecken, die sich bis in den Trockenraum verbreiteten und schließlich zwei weiße Mäuse für je 1,80 Mark.
Die Mäuse bewohnten den alten großen Windelkochtopf. Leider sprangen sie mehrfach heraus und mussten durch die ganze Wohnung gejagt werden. Zum Glück vermehrten sie sich nicht, sonst wäre ich wohl ins Heim gekommen. Schließlich musste ich sie in der kleinen Grünanlage neben dem Haus aussetzen. Ich durfte ihnen nur zwei Scheiben Burger-Knäcke mit auf den Weg geben. Ich glaube nicht, dass sie damit sehr alt geworden sind.
Später wurden wir noch zur Urlaubsaufsicht für eine Ratte, ein Karnickel, einen Jagdhund mit Katzen und eine Oma und die Schildkröte meiner Schwägerin berufen. Haben aber alle überlebt.
Erwähnt werden sollte noch der missglückte Mordanschlag auf den Kanarienpiepmatz meiner Schwiegereltern. Ich mochte ihn ohnehin nicht besonders. Bei allen köstlichen Mahlzeiten meiner Schwiegermutter wurde man von dem Vieh blöd angezwitschert. Als die Eltern dann mal auf Reisen waren und es zum Mittagessen bei Omma toten Fisch geben sollte und dieser fast fertig war und ich solchen Hunger hatte, musste der olle Vogel unbedingt noch mal kurz aus dem Käfig gelassen werden. Unsere Einwände nützten nichts, Omma machte den Käfig auf. Aber der Federball flog nicht lange.
Er drehte eine kleine Runde und verflatterte sich postwendend in der klebrigen Fliegenfalle, die von der Küchenlampe baumelte. Komplett darin eingerollt kam er auf dem Tisch zu liegen. Meine Frau brüllte "Scheiße!" und "Tierarzt!", ich sagt etwas von "Hals umdrehen" und "Mülltonne" und schrieb mein seliges Mittagessen ab.
Dann rannten wir mit dem Klebe-Pieper und seinem Vogelkäfig zum Tierarzt, vier Häuser weiter. Der versuchte mit Benzin die Klebefolie vom Gefieder des Verunglückten zu lösen. Von den Dämpfen war der Vogel angenehm ruhig. Für sein Überleben wollte sich Dr. Doolittle aber nicht verbürgen, jedenfalls sollte der Patient erst mal nicht rauchen.
Nachdem wir nun uns und allen Beteiligten das Mittagessen versaut hatten, konnten wir gehen. Der Vogel atmete noch lange um sein Leben. Einige Federn hatte er auch eingebüßt. Er überlebte den Vorfall jedoch wider erwarten und zwitscherte bald wieder unsinniges Zeug. Eine Ausstopfung, die sonst im Haus meiner Schwiegereltern obligatorisch ist, blieb ihm erspart, er wurde später einfach weggegeben (lebend).
Im Großen und Ganzen sind damit alle verflossenen tierischen Bekanntschaften meinerseits erfasst. Sie verliefen nicht immer glücklich und endeten oft tragisch. Deshalb wird unser Nachwuchs ebenfalls die Allergiegeschichte zu hören bekommen, sollte er jemals den Wunsch nach einem Haustier äußern. Das ist wohl für alle beteiligten Gemüter die beste Lösung. (HO)