Heimweh

"Geh wo du wohnst." (Antikörper)


Immer wenn ich mich unfreiwillig in der Fremde aufhalten muss, trifft es mich recht bald knallhart aus allen Richtungen, packt mich, schüttelt mich und wirft mich schließlich kopfüber in den Schmutz – das Heimweh.
Ich bin quasi heimsüchtig. Es zieht mich eben gedanklich immer wieder zurück in mein kleines Reich, meinen trauten Hort der Geborgenheit, Wärme und Kontinuität. Bei mir zu Hause fühle ich mich nämlich am Wohlsten. Schließlich habe ich es mir dort extra schön gemacht. Wie gern streife ich gedankenverloren in meinen grauen Filzpantöffelchen über die beheizten marmornen Fußböden, streichle liebevoll die herumstehenden antiken Möbel aus edlem Tropenholz, schnuppere den Duft von dutzenden frischen Orchideen oder liege nackt unter dem großen Kristallleuchter im Eingangsbereich und bewundere den Schimmer des Lichtes auf meiner blassen Haut. Traumhaft schön. Aber Spaß beiseite – so edel geht es bei mir schließlich nicht zu. Trotzdem bin ich am liebsten daheim.
Doch leider währt der himmlische Frieden nie lange. Ich muss zum Beispiel mehrfach in der Woche zur Arbeit gehen. Seit Jahren. Da habe ich fast immer ganz dolle Heimweh. Ich werde richtig traurig und melancholisch. Denn alles dort ist so unbequem und unangenehm und stört meinen inneren Frieden. Dabei will ich nur meine Ruhe haben. Aber das geht unter den dort herrschenden Umständen natürlich nicht. Ständig muss man auf irgendetwas achten, aufpassen, zuhören, hinkucken oder was weiß ich alles. Das nervt auf die Dauer ganz schön. Und dann soll man auch noch so lange bleiben – über acht Stunden hintereinander – immer wieder. Das ist doch krank! Die Uhrzeiten, zu denen man da hingehen muss sind ebenfalls blöd. Mal morgens um kurz vor sechs, dann wieder die ganze Nacht oder immer im Wechsel. Oft sogar am Wochenende. Dabei kenne ich dort nicht mal alle Leute so richtig. Einige sind mir regelrecht unangenehm. Trotzdem gehe ich da regelmäßig wieder hin. Aber wozu eigentlich? Ist ja bloß wegen der Rente. Also wegen der Rente der Anderen. Selber bekomme ich sicher keine mehr. Wenn das so weiter geht jedenfalls. Es ist alles so sinnlos. Ich sollte dringend was anderes machen. Zum Beispiel nichts. Das läge mir bestimmt viel eher.
Wer hat sich diese elende Maloche bloß ausgedacht? Wir Menschen sind doch die Krone der Schöpfung. Nun ja, nicht alle. Einige vielleicht. Also ich mit Sicherheit. Demnach ist meine Trägheit eine gottgewollte und liebenswerte Eigenheit. Ich bin halt ziemlich ortsgebunden. Wenn man raus geht, rennt man bekanntermaßen nur der nächsten Enttäuschung in die ausgebreiteten Arme. Deshalb gehe ich lieber auf Nummer sicher und bleibe dekorativ auf meiner Ledercouch liegen. Wenn es dann aus versehen klingelt, mache ich einfach nicht auf. Sind sowieso nur die schmierigen Vertreter der Wohlfahrtsverbände. Spendenkriecher. Arschlöcher. Geht doch selber arbeiten.
Es ist wirklich war. So ich mich alle paar Wochen mal aufraffe und den beschwerlichen Weg in die Innenstadt antrete um den glitzernden Konsumtempeln meine Aufwartung zu machen und das eine oder andere Schnäppchen zu ergattern, befällt mich bereits auf dem Hinweg eine spontane Schlappheit. Mein Umkehrinstinkt meldet sich aufdringlich zu Wort, der nur durch meinen eisernen Willen, meine heldenhafte Verbissenheit, mein Kämpferherz zum Schweigen gebracht werden kann. Ich schreite blindwütig weiter und komme fix und fertig am Ziel an. Dort stelle ich postwendend fest, dass ich den Kassenzettel für den Umtausch des Schnäppchens vom letzten Shoppingtrip zu Hause vergessen habe. Das ich kaum Bargeld bei mir trage. Das meine EC-Karte im Arsch ist und die Gummi-Burger bei Mac Doof erst ab mittags halb elf ausgeschenkt werden. Es ist alles so sinnlos. Mit hängenden Ohren, Schultern und Mundwinkeln schleiche ich wieder nach Hause zurück. Diese Enttäuschung. Das passiert mir nicht noch mal. Scheiß Kapitalismus.
Ein weiterer Grund fürs vehemente Stubenhocken ist das Wetter. Im Moment ist es so heiß draußen, da geh ich nicht raus. Bei über dreißig Grad kann ich nichts machen. Nur schwitzen. Wie können die vielen aufgeschwemmten Pauschaltouristen nur immer bis nach Ägypten fliegen wollen? Da ist es doch noch wärmer. Die können doch lieber in die Sauna im Badeland um die Ecke gehen. Oder ins Solarium. Schwitzt auch, ist billiger und politisch berechenbarer. Diese Ochsen.
Außerdem habe ich Allergie. Gegen Wiese und bestimmt auch gegen Sonne. Und gegen andere Leute sowieso. Manchmal gibt es natürlich auch anderes Wetter. Monatelang ist es zum Beispiel viel zu kalt. Im Winter ist das ganz schlimm. Das beißt richtig im Gesicht. Unter diesen widrigen Umständen sollte man nur im äußersten Notfall das Haus verlassen. Oder besser gar nicht. Einfach abwarten. Stillhalten. Ungefähr bis circa Mitte Mai. Dann wird es endlich wieder zu warm. Scheiße.
Leider kann ich häufig nicht warten. Auf bessere Zeiten oder das Ende. Manchmal gehe ich raus. Weil ich muss. Es ist alles so sinnlos… (HO)