A groovy kind of Dorf

Das Dorf überrascht den unerfahrenen Besucher mit einer Vielzahl von Bräuchen, Sitten und Anlässen für jede Gelegenheit.


Für mich Provinzgroßstädter ist die Fahrt auf's Land immer wieder eine Reise in die Welt der kleinkulturellen Sippenhaft. Die Menschen sind, wenn nicht miteinander verwandt oder verschwägert, so doch wenigstens im selben Verein organisiert, sie kegeln, singen oder jagen gemeinsam einheimischen Tieren und Pflanzen hinterher.
Sie sind spendabel mit Gelächter und Alkohol, empfangen den Fremden einladend höflich oder packen ihn am Kragen, um ihn grundlos zu beschimpfen und durchzuschütteln.
Von beiden Reaktionen ist man zunächst überrascht, stellt sich im Verlauf aber darauf ein. Man ist beeindruckt von der kollegialen Gemeinschaftlichkeit, dem Ringen helfender Hände und den undurchsichtigen sozialen Strukturen der Einheimischen. Diese komplexen Bindungen sind nur schwer zu ergründen, es bedarf jahrelanger aufklärerischer Erläuterungen, wer mit wem warum verbändelt oder verkracht ist.
Um diese Bindungen zu pflegen, wird zu jedem Anlass eine ausschweifende Feier angestrengt, fast ein jeder ist eingeladen, generationsübergreifende Geschwätzigkeit, Fröhlichkeit und Anteilnahme bestimmen das Bild. Denn wo in Städten die Alten in Heimen isoliert und/ oder vierteljährlich ans Steinhuder Meer gekarrt werden, um ihnen Freiheit und Selbstbestimmung vorzugaukeln, leben sie auf den Dörfern nahe bei den Familien, diese essen, trinken und feiern mit ihnen und sie werden sogar von der Jugend gegrüßt und in Gespräche verwickelt. Jedes Schicksal verbindet - kein offenes Bein bleibt geheim!
Auch als potenziell Außenstehender, der rein zufällig auf Grund zwischenmenschlich-partnerschaftlich-sexueller Verstrickungen in das Geflecht der dörflichen Großfamilie geraten ist, kommt man zu abendfüllenden Kontakten und brüderlichen Umarmungen. Man wird zu Lobpreisungen der gemeinschaftlichen Idylle genötigt und schließlich zur Veranstaltung der eigenen und fiktiven Eheschließung in entsprechendem Rahmen und Umfang, inklusive der Teilnahme aller Unbeteiligten, aufgefordert. Ein solch verfängliches Angebot kann nur mit diplomatisch-vertröstlichem Geschwafel abgetan werden. Denn weder ist der Anlass, noch die Motivation für ein solches feierliches Unterfangen gegeben oder zu Lebzeiten Anwesender wahrscheinlich.
Doch auch die negativen Seiten der dörflichen Idylle treten hin und wieder offen zu Tage. Denn es gibt quasi kein Privatleben. Zu jeder Tages- und Nachtzeit stehen mehr oder weniger Bekannte vor der Tür, wollen hereingelassen und bewirtet werden, bleiben, bis selbst der höflichste Gastgeber sitzmufflig, der letzte Schnaps getrunken und die Oma des Hauses thrombotisch-beinkrank geworden ist. Und das geht fast jeden Abend so.
Während sich der Städter nach getaner Arbeit, nach Shopping und Kinderbetreuung auf seiner Couch zur Ruhe begibt und jedwede Störung der Selben meidet, muss das Gemeindemitglied mit stoischer Gelassenheit seine psychosoziale Pflicht erfüllen. Wie schrecklich.
Der Dörfler geht auch nur selten auf Reisen und wenn, dann in Vereinsstärke. Mit der eigenen Ehefrau fährt er höchstens zum Einkaufen in die nächste Kreisstadt. Die Reiseunlust hängt vorwiegend mit lebenden oder toten Tieren bzw. pflegebedürftigen Anverwandten zusammen.
Wenn die Gemeindeschwester dem Rotstrich der Krankenkasse oder dem Straßenverkehr zum Opfer gefallen, das Pflegeheim zu teuer oder die Omma Hausbesitzerin ist, muss man sich eben selber kümmern, bis der Heiland ein Einsehen hat. Tut er dies dann doch, ist das wiederum Grund für eine ausufernde Feier, bis auch der letzte Stützstrumpf versoffen ist.
Es ist beachtlich, wie diese Gemeinschaft auch ohne Kuhstall, Ernteeinsatz und Pastor zusammen hält. Hinzugezogene Bausparhäuslebauer in der Peripherie sind in das dörfliche Konglomerat natürlich nur bedingt eingebunden. Insofern ist man als Angepartnerter von alteingesessenen Bewohnern durchaus noch im Vorteil.
Der städtische Menschenmuffel ist trotzdem mit diesen Umständen des Öfteren überfordert. Wieder zu Hause, schleicht er die viel zu lange Treppe des Mietshauses hinauf, um nur keine Aufmerksamkeit zu erregen und, trifft er doch auf Nachbarn, heuchelt er hektische Geschäftigkeit, bemüht, ein Gespräch schon im Keim zu ersticken. In den eigenen vier Wänden erfreut er sich der Abgeschiedenheit und überlegt einen Moment lang, die Klingel aus der Wand zu reißen und das Telefon abzumelden. Nach einer gewissen Erholungsphase freut man sich aber doch wieder über gelegentliche Meldungen des Freundeskreises und der nicht angeheirateten Verwandtschaft. (HO)