Besser als schlecht

Über den Durchschnitt.


In meinen Schulzeugnissen stand regelmäßig zu lesen, das ich unter meinen Möglichkeiten bliebe. Das war zum einen traurig, zum anderen wiederum tröstlich. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich ja können, ich wollte nur eben nicht. Ein Hauch von Freiheit und Unabhängigkeit wehte durch diese Zeilen.
Leider war nicht revolutionärer Protest die Ursache meiner Mittelmäßigkeit (obwohl ich mich in der Rolle des Querulanten immer sehr wohl gefühlt habe) und für eine komplette Vollmeise war ich auch nicht blöd genug, die Gründe waren wohl eher jugendliche Faulheit und Lethargie, gepaart mit vornehmer Zurückhaltung. Eine gewisse Antriebslosigkeit zeichnete mich damals schon aus und zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben. Wenn ich nicht muss, dann brauch ich ja offensichtlich auch nicht!
Aber manchmal musste ich doch. Zum Beispiel war ich langjähriges Mitglied des Gruppenrates unserer Klasse. Meist waren meine Posten unbedeutend und ich konnte keinen großen Schaden anrichten. In die höheren Sphären der Leitungsebene bin ich deshalb nie aufgestiegen. Ich blieb immer stabil auf niedrigerem Niveau hängen und wurde zwischen unbeliebten Aufgabenbereichen hin und her geschoben. Da niemand auf mein Arbeitsfeld scharf war, wurde ich auch nicht abgewählt, sondern musste dem Gremium auf Dauer treu bleiben. Ein typisches DDR-Schicksal.
Wie erwähnt wechselten meine Kompetenzen häufiger. So war ich für ein Jahr Gruppenbuchführer und schrieb darin über unsere Klassenausflüge oder eben auch nicht. Das ist anfangs noch ganz lustig. Zum Ende meiner Amtszeit war allerdings komischerweise das besagte Buch verschwunden und ich brauchte dringend einen neuen Wirkungskreis.
So wurde ich Agitator. Als solcher sollte ich der Klasse regelmäßig über politische Entwicklung berichten, wie die neuen Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion, den Besuch des angolanischen Außenministers in einer LPG in Wanzleben, den Freiheitskampf des nikaraguanischen Volkes oder die Vorbereitung zum nächsten Parteitag der SED. Eine sehr dankbare Aufgabe. So macht man sich Freunde und verschafft sich Respekt. Zusätzlich trafen sich einmal in der Woche alle Agitatoren und die FDJ-Leitung vorm Unterricht. Da geht man gern eine halbe Stunde früher zur Schule und berichtet anschließend der nach Aufklärung lechzenden Klasse davon. Das konnte ja nicht gut gehen.
In einem weiteren Jahr sollte ich mich unserer Wandzeitung widmen. Politisch ebenso anspruchsvoll wie notwendig. Auch in diesem Bereich war ich dem Siegeszug des Sozialismus keine große Hilfe und mein Engagement verlief nach mehreren Ermahnungen seitens der Klassenleitung im Sande. Ich erinnere mich nur noch an eine einzige Wandzeitung über das US-amerikanische SDI-Projekt zur Raketenabwehr im Weltraum, welches den Frieden massiv bedrohte und von uns mit einer Sammlung ausgeschnittener Zeitungsartikel, selbst gemalter Raketen und handelsüblicher Parolen auf rotem Tuch bekämpft wurde. Wer dieses Kleinod zusammengezimmert hatte ist mir entfallen. Ich bezweifle aber jegliche Beteiligung meinerseits. Wenn ich mich recht entsinne, kamen Wandzeitungen in unserer Klasse wenig später ohnehin aus der Mode.
Meine letzten Schuljahre verbrachte ich als Kassierer für das Essengeld sowie FDJ- und DSF-Beiträge. Ich war die Bank! Das Klimpergeld trug ich in einer ausgedienten Milchtüte bei mir.
An unserem letzten Schultag fragte mich unser Klassenlehrer, ob ich denn schon alles abgerechnet hätte. Ich verneinte und gelobte sofortige Besserung. Leider hatte ich meine Kasse inzwischen für Lizenzschallplatten verauslagt und brauchte entsprechend dringend Bargeld. In meinem albernen Aufzug (typisch für letzte Schultage) schlich ich nach Hause, suchte schnell ein paar Pfandflaschen zusammen, gab diese ab und kaufte davon die Marken für unsere Mitgliedsbücher. Einen Teil davon habe ich immer noch zu liegen. Wer sich damals über den Nuckel gezogen fühlte, kann sich ja mal bei mir melden.
Trotz aller negativen Schwingungen sollte mein größter Erfolg zu Schulzeiten natürlich nicht verschwiegen werden. Im PA-Unterricht im Holzwerk gewann ich einmal den sozialistischen Wettbewerb im Paneele verpacken! Ich bekam vierzig Ostmark und einen derben Händedruck dazu. Und auch während meiner Ferienjobs in der Konsumgüterproduktion war man von meinem Arbeitseifer durchaus beeindruckt. Bei einfachen, wenig anstrengenden Tätigkeiten konnte ich anscheinend über einen begrenzten Zeitraum die Trägheit überwinden und gewisse Höchstleistungen vollbringen.
Für meinen weiteren Lebensweg waren die Zeichen dennoch nicht unbedingt auf Sturm, sondern eher auf laues Lüftchen gestellt. Aber was soll´s? Musste ich mich halt damit abfinden. Wenn man sich von vornherein nicht allzu viel vornimmt, braucht man am Ende nicht so enttäuscht zu sein, sein Ziel verfehlt zu haben.
Ich machte die eine oder andere Berufsausbildung und schloss diese gewohnt mittelmäßig ab. Eben den Umständen entsprechend. Schlüsselpositionen wurden von mir nie angestrebt, das Tragen übermäßiger Verantwortung erst recht nicht. Warum auch. Die anmaßende Wichtigtuerei anderer Leute fehlt mir absolut. Zum Glück.
Mein Engagement ist eben allgemein nicht sonderlich ausgeprägt. Nach einer kurzen und überschwänglichen Phase ehrlichen Interesses und echten guten Willens verebbt mein Aktionismus recht schnell. Das Potential, etwas wirklich Großes zu leisten, schlummert bei mir wohl auch weiterhin im Verborgenen.
Schuld an den etlichen vergebenen Möglichkeiten scheint mir eine obskure Mischung aus Prioritätsschwankungen, Konzentrationsunlust und Bescheidenheit zu sein. Eine teilweise auftretende Talentlosigkeit könnte man mir zudem noch nachsagen. Und mein Gedächtnis ist leider ebenfalls nicht das Beste. Ich kann mir fast kaum Namen merken. Und andere Sachen auch nur schlecht. Wahrscheinlich leide ich seit meiner verflossenen Jugend unter der gefürchteten Alzheimerschen Krankheit. Diese wird noch erschwert durch chronischen Schlafmangel infolge latenten Schichtdienstes. Am besten schlafe ich nämlich tagsüber. Außer wenn ich Nachtschicht habe. Bekanntlich potenziert unzureichender Erholungsschlaf über einen langen Zeitraum hinweg das Risiko des böswilligen Gehirnschwundes und wird bei mir noch zu ungeahnten Auswüchsen führen. Mach man gar nicht drüber nachdenken.
Ein weiteres Indiz für meine beginnende Unzurechnungsfähigkeit ist, das ich immer wieder das Gleiche erzähle. Mitunter sogar mir selbst. Wenn ich Glück habe, vergessen meine Gesprächspartner die Geschichten noch schneller, als ich sie erzählen kann. Oder sie sind so höflich, immer wieder erstaunt aus der Wäsche zu gucken, statt gelangweilt das Weite zu suchen. Unweigerlich werde ich vor Erreichen des Rentenalters für verrückt erklärt. Es gibt sicherlich Mitbürger, die dies schon lange getan haben.
Zum Glück habe ich einige Hobbys, die mich von den multiplen Enttäuschungen des täglichen Lebens ein wenig ablenken. Ich höre gerne nervtötende Musik, bei der meine Angehörigen Herzrasen und einen plötzlichen kreisrunden Haarausfall bekommen. Ich sammle und lese Bücher die niemanden interessieren und über die sich keiner mit mir unterhalten möchte. Und ich bin gerne betrunken. Doch wenigstens auf diesem Gebiet habe ich echte Freunde fürs Leben gefunden. Schöngeister jenseits intellektuellen Getues, leibhaftige Gutmenschen und Helfer in der größten Not. Prost Jungs! (HO)