"Wo man singet, lass dich ruhig nieder." (Johann Gottfried Seume)
Bei uns im Ort und insbesondere in unserer Fabrik für Elementarteilchen- beschleuniger hat sich kürzlich ein Hobby unter den Angestellten der Abteilung für Kundenbetreuung etabliert – das
filigrane Vortragen geschichtlich und kulturpolitisch relevanter Lieder.
Denn gerade als wichtiger Bestandteil der Grundlagenforschung wollen wir uns unserer Verantwortung stellen, indem wir fast vergessenes Liedgut pflegen und erhalten, es der Nachwelt immer wieder
vor Augen und Ohren halten und somit Denkprozesse in Gang bringen, denen sich die Menschen in unserer schnelllebigen Zeit ansonsten kaum noch ausgesetzt sehen.
Wir singen dabei vor allem für unsere älteren und jüngeren Mitbürger, die entweder in ihren Erinnerungen schwelgen können oder sich in diesem Kontext einigen ganz neuen Einflüssen öffnen sollen.
Und für die Mitbürger dazwischen singen wir natürlich auch sehr gern. Am wichtigsten ist uns, das wir überhaupt singen. Nicht, weil wir dies besonders gut könnten. Professionalität liegt uns
fern. Es geht vielmehr um die Freude an der Betätigung. Um das kreative Schaffen an sich.
Der Singekreis besteht derweil leider nur aus zwei engagierten Mitgliedern. Nämlich einer Dame mit hohem künstlerischem Potential, welches sie sich in ihrer ländlichen Vergangenheit kaum
auszuleben getraute und meiner eigenen Wenigkeit. Dennoch sind wir auf einem guten Wege. Meine Gesangspartnerin macht sich z.B. täglich warm, indem sie klassische Gedichte rezitiert (Goethe,
Schiller und diese ganzen klassischen Schlaumeier). Diese Gewohnheit schult das Gedächtnis und die Textsicherheit und ist deshalb nur zu begrüßen.
Ich selbst bin ebenfalls neu im Metier der Stimmakrobatik, hielt mich in der Vergangenheit gesanglich eher zurück und brüllte nur zu besonderen Anlässen und mit temporär versagender Stimme
politische Parolen unterschiedlicher Ausrichtung. Erst durch die permanente Auseinandersetzung mit unserem historischen Erbgut gelang uns der Schritt zu eigener künstlerischer
Entfaltungsbereitschaft. Umso fruchtbarer gestaltet sich jedoch derzeit unser Sendungsbewusstsein.
Vor den Proben, die wir zur Freude unserer Kollegen und Kunden immer während der Arbeitszeit durchführen können, ölen wir unsere Stimmen mit leichten Kamillentees oder halbtrockenen
Mineralwässern. Auch nehmen wir nur leichte Speisen zu uns, so gemischte Salate, frisches Obst oder gedünstetes Gemüse, um die Durchblutung des Gesangsapparates nicht durch einen schweren Magen
zu behindern.
Und dann kommt es zum Äußersten. Wir stimmen das beliebte Pionierlied „Unsre Heimat“ an – unseren größten Klassiker. Den Kollegen fällt die Kinnlade ins bodenlose, ihre Augen weiten sich
diabolisch und wenig später beginnen sie zu jubeln und sich in den Hüften zu wiegen. Nach anfänglicher Verwunderung fallen auch die werten Besucher in die Begeisterungsstürme ein, sie tanzen und
verlangen nach Tonträgern, Autogrammen und getragener Unterwäsche.
Mit diesen Ausschreitungen sind wir zum Glück vertraut. Meine Gesangspartnerin lächelt erhaben, ich grinse verschmitzt, wir verbeugen uns mehrfach und kündigen der tobenden Masse das nächste
Musikstück an. Nach einer Reihe ergreifender Pionier- und Arbeiterlieder gipfelt die Darbietung in einem Potpourri bekannter Melodien aus unvergessenen Kindersendungen („Wickie“, „Flipper“
u.s.w.). Als Sahnehäubchen präsentieren wir noch eine kleine Auswahl schwülstiger Lieder von Roland Kaiser, bei denen endgültig alle Dämme brechen. Manche Menschen verlassen schreiend ihre
Kleidung, andere tränenüberströmt den Saal. Schweißgebadet fallen auch wir uns in die Arme, werfen Handküsse ins begeisterte Publikum und wenden uns wieder zielstrebig unserer täglichen Arbeit
zu. Die taumelnden Anwesenden beruhigen sich ebenfalls langsam und freuen sich auf den nächsten furiosen Auftritt. So läuft das bei uns.
Man kann ohne Bescheidenheit sagen, dass sich der geschäftliche Erfolg unseres Unternehmens nicht zuletzt durch die kleinen musikalischen Ergüsse unseres Ensembles sehr positiv entwickelt und wir
zum Marktführer in der Elementarteilchenbeschleunigerindustrie aufsteigen werden. Andere Unte- rnehmen der Region haben bereits Auftritte angefragt, demzufolge wir unseren Siegeszug demnächst in
der Tierproduktion, in Altenpflegeeinrichtungen und angrenzenden Gastronomiebetrieben fortsetzen werden.
Freut euch auf uns – wir kriegen euch alle! (HO)