"Mein Herz geht an Bord und fort muß die Reise geh'n." (Hans Albers)
Schiffsreisen sind immer mit einem gewissen Risiko verbunden. Auf hoher See gibt es etliche Unwägbarkeiten, mit denen die Besatzung zu Recht kommen muss. Zum einen kann das Wetter innerhalb
kürzester Zeit komplett umschlagen, die Takelage kann zu Bruch gehen, die Verpflegung verderben oder meuchlerische Meutereien für ungeplante Routenänderungen sorgen. Selbstmorde sind eine häufige
Folge und beeinträchtigen das Betriebsklima zusätzlich.
Im Auftrag des Zentrums des Wissens unternahm unsere Abteilung für angewandte Materialermüdung eine riskante Expedition, bei der ich meine Teilnahme nicht verhindern konnte. Nachdem wir auf
unserer letzten Entdeckungsfahrt das Horn von Afrika, das Kap der Guten Hoffnung und den Nord-Ostsee-Kanal passiert hatten, sollte es diesmal auf der unzähmbaren Elbe in Richtung Schönebeck
gehen. Ehrfürchtig gingen wir an Bord, denn diese besonders gefährliche Mission würde uns fast alles abverlangen.
Zu Studienzwecken führten wir eine größere Gruppe Senioren mit uns. Im Auftrag der Rententräger sollten wir deren Überlebenschancen jenseits der Zivilisation testen und bewerten. Um die
Sterblichkeit während der langen Reise in überschaubaren Grenzen zu halten, hielt die Besatzung Kaffee und Kuchen bereit, der von den Probanden mit großem Interesse verzehrt wurde. Kaum reichten
die Nahrungsmittel für uns selbst. Hätten nicht einige leiderprobte Kollegen einen abgepackten Rührkuchen, ungewaschenes Obst und kohlensäurehaltige Getränke mit sich geführt, wären wir womöglich
dem Hungertod zum Opfer und unsere Studie ins trübe Wasser gefallen. Nichts desto trotz gaben sich einige aufstrebende Wissenschaftler aus Verzweiflung sogleich der fatalistischen Trunksucht hin.
Eine übliche Begleiterscheinung solch verwegener Unternehmungen. Trunksucht oder Schwindsucht, das war wohl die Frage.
Wir bereisten den tosenden Fluss im tiefsten Hochsommer. In der prallen Sonne trotzte man todesgewiss der Seekrankheit, dem Heimweh und dem Sonnenstich. Das verkraftete natürlich jeder Einzelne
unterschiedlich. So riefen manche jüngere Teilnehmer immer wieder zu Hause an, um den Stimmen der Eltern zu lauschen und sich von Freunden und Bekannten zu verabschieden. Würden sie diese jemals
wieder sehen? Vieles sprach dagegen. Beinahe hätten wir besonders trübsinnige Menschen an das reißende Gewässer verloren. Mit Mühe zerrten verantwortungsvolle Mitarbeiter sie von der Reling, wenn
sie, bereit zum Sprung, stundenlang ins Wasser stierten.
Natürlich hatten wir auch mit einem besonderen Übel der internationalen Seefahrt zu kämpfen – der Piraterie! Mehrfach näherten sich Eingeborene in Schnellboten oder Kanus. Hungrig hatten sie ihre
Industriebrachen verlassen. Man konnte es ihnen ja nicht einmal verübeln. Was sollten diese einfachen Geschöpfe auch machen? Dennoch hatte die Sicherheit des Schiffes und die Durchführung unserer
Mission oberste Priorität. Nur durch aggressives Rufen und Winken konnten die knochigen Ureinwohner vom Entern des Schiffes abgehalten werden. Zudem hatten wir etliche Geriaten auf dem Oberdeck
platziert, um den Seeräubern zu veranschaulichen, dass es bei uns außer Thrombosen nichts zu holen gab.
Entgegen aller Prognosen hielten die Grauen Panther sich wacker. Sie mümmelten tapfer die trockenen Backwaren, stippten sie in blassen Kaffee und lauschten Andrea Berg und anderen akustischen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wer den Krieg und Sibirien überlebt hat, den kann das südliche Sachsen-Anhalt nicht schrecken. Mit dieser Erkenntnis konnten wir die tollkühne Operation
abschließen. In unserem Bericht werden wir die Verschickung überalterter Mitbürger in dünn besiedelte Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Friedensgrenze empfehlen. Gedacht sei dabei an die üppigen
Steppen der Ukraine und der inneren Mongolei.
Müde und ausgezehrt verließ unsere tapfere Truppe das Schiff und sank an einem malerischen Strand in den weißen Sand. Bis zur Dämmerung lagen wir dösend herum, umklammerten ängstlich die
kühlenden Getränke und harrten einer letzten Mahlzeit. Eine besonders vom Skorbut gezeichnete Kollegin konnte sich kaum noch aufrichten. Mit vereinten Kräften schleiften wir sie zum nächsten
Gastronomen, wo sie mehrere Portionen gleichzeitig verspeiste und so ihr Leben in letzter Sekunde retten konnte.
Dies war definitiv unsere finale Kaffeefahrt auf der Elbe. Nie wieder werden wir ein solches Wagnis eingehen. Zu viele Forschungsreisende haben Familien, Kinder und Kredite zu bändigen. Ich fahre
das nächste Mal beispielsweise mit dem Bus ans Steinhuder Meer. Möchte jemand mitkommen? (HO)